Seit jeher haben Menschen Musik gemacht. Doch je weiter wir in der Zeit zurück gehen, desto weniger Zeugnisse finden wir, die uns über Spielweise, Melodien oder gar gesungene Texte Auskunft geben könnten. Die wunderbaren Schwanenknochenflöten aus der Steinzeit etwa: Wer weiß, welche Weisen ihnen entlockt wurden? Umso wertvoller ist ein besonderer Fund, der als Seikilos Epitaph bekannt wurde. Er schenkt uns ein Lied aus antiker Zeit. Wovon es handelt, wie es klingt, weshalb ein kleiner Teil verloren ist und was Blumen damit zu tun haben, das ist Teil seiner spannenden Entdeckungsgeschichte. Und am Schluss gibt es noch eine kleine Überraschung.
Los geht es mit der Zeitreise…
Um die Geschichte eine der ältesten vollständigen Komposition der Menschheit zu erzählen begeben wir uns in die Türkei, genauer gesagt in eine kleinen Siedlung namens Tralles. Dort soll 1883 der schottische Archäologe Sir William Mitchell Ramsay das Epitaph entdeckt haben. Zu diesem Zeitpunkt spricht noch niemand von Musik oder gar einer Komposition, es handelt sich nach allgemeiner Ansicht um eine marmorne Grabstele mit Inschrift.
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Zu der Entdeckung existiert eine interessante Anekdote. Denn diese fand keineswegs auf einer Grabung statt, wie vermutet werden könnte. Als die Bahnlinie nach Aydın gebaut wurde kam die Stele überraschend zum Vorschein. Da sie im unteren Bereich ungleichmäßig abgebrochen war ließ der Bauleiter, Edward Purser, sie gerade absägen und nahm sie mit nach Hause. Dort diente sie als dekoratives Podest für die Blumentöpfe seiner Ehefrau. Leider ging durch diesen groben Umbau die letzte Zeile verloren. In diesem Garten nun soll Sir Ramsay die Stele schließlich entdeckt und daraufhin erstmals beschrieben haben.
In griechischer Schrift ist darauf ein Hinweis, ein Gedicht und ein Widmung zu lesen. Zudem bemerkte Sir Ramsay kleine Zeichen über dem zweiten Teil der Inschrift, die er aber trotz aller Anstrengung zu seinem Bedauern nicht deuten konnte. Aber immerhin wurde ihm der Ruhm des Finders zuteil und die Freude über eine Fundstelle, die sicher angenehmer und durch die Gastfreundschaft auch mit besserer Bewirtung ausgestattet war als so manche archäologische Grabungsstelle. 😉
Was steht denn nun auf der Stele drauf?
Lennart Larsen, Nationalmuseets fotograf,
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Die Beschriftung besteht wie gesagt aus mehreren Teilen. Oben findet sich zunächst ein Hinweis:
Εἰκὼν ἡ λίθος εἰμί· τίθησί με Σεικιλος ἔνθα μνήμης ἀθανάτου σῆμα πολυχρόνιον.
(eikṑn ḗ líthos eimí. títhēsí me Seikílos éntha mnḗmēs athanátou sêma polykhrónion.)
Verschiedene freie Übersetzungen hierfür sind:
– Ich bin ein Bild in Stein; Seikilos stellte mich hier auf, in ewiger Erinnerung, als zeitloses Symbol.
– Ich bin ein Grabstein, ein Abbild. Seikilos hat mich hier als dauerhaftes Zeichen des unsterblichen Gedenkens aufgestellt.
Dann das Gedicht:
Ὅσον ζῇς φαίνου (hóson zêis, phaínou )
μηδὲν ὅλως σὺ λυποῦ (mēdèn hólōs sỳ lypoû)
πρὸς ὀλίγον ἐστὶ τὸ ζῆν (pròs olígon ésti tò zên)
τὸ τέλος ὁ χρόνος ἀπαιτεῖ. (ò télos ho khrónos apaiteî)
verschiedene freie Übersetzungen:
Solange du lebst, leuchte
habe keinen Kummer
das Leben existiert nur für eine kurze Zeit
und die Zeit fordert ihr Recht.
Solange du lebst, tritt auch in Erscheinung.
Traure über nichts zu viel.
Eine kurze Frist bleibt zum Leben.
Das Ende bringt die Zeit von selbst.
Solange du lebst, scheine.
Trauere über nichts.
Von kurzer Dauer ist das Leben.
Das Ende bringt die Zeit von selbst.
Die mir liebste Übersetzung stammt aus dem Buch „Alte Texte in neuen Kontexten“ von Wolfgang Stegemann, Hrsg.
Strahle, solange du lebst.
Sei nicht traurig, weil das Leben so kurz ist
und die Zeit ihren Tribut fordert.
Und zuletzt unten die leider nicht mehr vollständige Inschrift Σεικίλος Εὐτέρ
Mögliche Ergänzungen sind [πῃ] oder auch [που], was dann als Seikílos Eutérpēi oder Seikílos Eutérpou gelesen werden kann. Dies bedeutet übersetzt „Seikilos für Euterpe“ oder „Seikilos der Euterpe“ (frei: Seikilos, Sohn der Euterpe) Die Grabstele kann also einer geliebten Ehefrau namens Euterpe gedenken, der gleichnamigen Muse der Musik gewidmet sein oder Seikilos als Sohn der musischen Künste ehren.
Aber, was ist nun mit der Musik?
SVG by David W.
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Im Jahr 1893 fiel Otto Carl Friedrich Hermann Crusius, einem deutschen klassischen Philologen beim Lesen der Veröffentlichung zu der Stele etwas auf. Er kannte sich mit den Liedern des Mesomedes aus, welche bis dahin als die ältesten erhaltenen schriftlichen Kompositionen der Menschheit galten. Die Melodie der Lieder folgt in ihrer Höhe den Wortbetonungszeichen. Die im selben Jahr veröffentlichten „Delphischen Hymnen“ bestätigten mit ihren verwendeten Notenzeichen diese Theorie. Es handelte sich also tatsächlich um Notenzeichen und insgesamt um eine vollständige Komposition! Ob das diatonische Stück nun in iastisch-ionischer Tonart steht oder der Phrygischen Oktave zuzuordnen ist wurde daraufhin von Experten heiß diskutiert. Fest steht: Zusammen mit dem Wissen um die griechischen Notationen für Gesang und Instrumente konnte eine im heutigen System spielbare Melodie rekonstruiert werden, die als weitestgehend authentisch angesehen werden kann.
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Statt in D-Dur (mit zwei Kreuzen) wie oben haben wir es auch in C-Dur gesetzt bekommen (danke an Falk!).
Ihr werdet weiter unten sehen warum.
Wie alt ist das Lied denn nun?
Die Datierung ist nicht ganz einfach, weshalb meist ein Zeitfenster angegeben wird: Frühestens in hadrianischer Zeit (117–138 n. Chr.) und spätestens zu Beginn des 3. Jh. n. Chr. wurde die Stele wohl erstellt. Damit wird Seikilos Epitaph zurecht die aktuell älteste vollständig erhaltene Komposition der Menschheit genannt. Allerdings nicht das älteste Lied…
Und was wurde aus der Stele?
Während des bereits beschriebenen Krieges zwischen Griechenland und der Türkei soll (je nach Quelle) der Schwiegersohn oder der Anwalt des Bauleiters die Stele nach Buca bei Smyrna gebracht haben. Dort nahm sie dann der niederländische Konsul in seine Obhut bis sie schließlich über Konstantinopel und Stockholm in Den Haag ankam. Dort verblieb sie, bis sie 1966 vom Dänischen Nationalmuseum erworben und nach Kopenhagen gebracht wurde. Dort ist sie, trotz verschiedener Versuche der türkischen Regierung die Rückgabe des Artfaktes einzuklagen, bis heute untergebracht und kann besichtigt werden.
Und wie hört sich das Lied an?
Wir haben die Melodie für euch auf einer kleinen Leierharfe gezupft:
Hier könnt ihr euch die Melodie auf einem authentisch rekonstruierten antiken Lyra anhören und dazu schöne Landschaftsbilder genießen:
https://youtu.be/h6xUJJD5A_M?t=58
Dies ist eine muntere Interpretation mit Gesang und Trommel:
https://youtu.be/qdlFLw5Asc8
Und nun die versprochene Überraschung:
Öffnet das Video der YouTube Harfe.
https://youtu.be/75XKdDuu_gs
Während das Video läuft könnt ihr mit den Zahlen aus dem Nummernblock „spielen“.
Tippt einmal folgende Ziffern nacheinander: 5 9 9 7 8 9 8
Dies entspricht den Noten G D D B C D C, also dem Anfang des Liedes wenn es in C-Dur gesetzt ist.
Tipp: Sollte das Video für euch zu schnell ablaufen, dann setzt einfach die Wiedergabegeschwindigkeit herunter.
Für diejenigen, die nicht Noten lesen können, hier die die vollständige Umschrift:
G D D B C D C also 5 9 9 7 8 9 8
B C D C B A G A F also 7 8 9 8 7 6 5 6 4
G B D C B C B G A F also 5 7 9 8 7 8 7 5 6 4
G B A C D B G G G E D also 5 7 6 8 9 7 5 5 5 3 2
Viel Spaß!