Buchtipp: Jorge Bucay „Komm, ich erzähl dir eine Geschichte“

Buchcover Jorge Bucay, "Komm, ich erzähl dir eine Geschichte"
Jorge Bucay ist ein argentinischer Autor, Psychiater und Gestalttherapeut. Mit „Komm, ich erzähl dir eine Geschichte“ begann sein internationaler Durchbruch. Seine Bücher wurden in mehr als dreißig Sprachen übersetzt und haben sich weltweit über zehn Millionen Mal verkauft. Sie handeln vom Nachdenken, von Liebe, von Trauer und vom Miteinander. Und eins haben sie alle gemein: Sie nehmen den Leser mit auf eine Reise. Zunächst Seite für Seite mit dem Autor und seinen Figuren, dann tiefer in die Geschichten in den Geschichten, bis hinein in die eigene Gedankenwelt. Sie laden ein nachzudenken, zu hinterfragen, den Blickwinkel zu verändern, sich selbst gewahr zu werden und sich auch einmal einfach treiben zu lassen. Eine Reise, die in einem selbst stattfindet und über die letzte Seite hinaus Wirkung entfaltet.
Apropos Reise: Das Buch ist nun auch als Teil der Fischer Taschenbibliothek erschienen. Im kleinen, reisefreundlichen Format, mit festem Einband und abgerundeten Ecken. Da eine mehrstündige Zugreise ansteht, packe ich es mir freudig gespannt in die Handtasche, mit dem festen Vorsatz, immer nur eine Geschichte zu lesen und dann zu pausieren…

„Kindern erzählt man Geschichten zum Einschlafen – Erwachsenen, damit sie aufwachen“.

Etwas skeptisch lese ich den Satz hinten auf dem Einband und überlege, ob mir das Buch nicht vielleicht doch zu belehrend sein würde, mit platten Lebensweisheiten und Allgemeinplätzen. Doch gerade als ich beschließe, mich nicht vom Einband beeinflussen zu lassen, drehe ich es um und tue genau das: Denn ein Elefant vor einem Zirkuszelt steht da mit erhobenem Rüssel und lädt mich förmlich ein, doch endlich das Buch aufzuschlagen. Schmunzelnd komme ich dem nach, als gerade mein Zug anfährt und langsam an Fahrt gewinnt.

Das Buch „Komm, ich erzähl dir eine Geschichte folgt selbst dem Grundprinzip der Gestalttherapie. Ich lerne den jungen Mann Demian kennen, und mit ihm bin ich direkt in seiner ersten Sitzung bei „dem Dicken“. „Ich kann nicht“, sagt er, „Ich kann es einfach nicht“. Und bereits bei diesen ersten Sätzen beginnt mein Hirn zu rattern. Bin ich nicht auch selbst immer wieder einmal in einer Situation, bei der ich zu mir selbst sage „Ich kann es nicht“? Gerade jetzt, auf dem Weg zu einem wichtigen Termin? Statt dies zu bewerten, zu beschwichtigen oder abzutun fragt Jorge, der Therapeut einfach „Bist du sicher?“ Ich bin genauso perplex wie Demian und weiß nicht, wie ich mit dieser Antwort umgehen soll.

Seite des ersten Kapitels aus dem Buch von Jorge Bucay

In der Gestalttherapie geht es darum, durch direkte und konkrete Arbeit an aktuellen Situationen den Kontakt des Patienten zu sich selbst und zu seiner Umwelt zu fördern und zu unterstützen. Und dies geschieht bei dem Dicken durch Geschichten. Ich kann ihn mir genau vorstellen, wie er im Schneidersitz auf dem blauen Polstersessel sitzt, lächelt und zu erzählen beginnt. Die Geschichten sind zugleich die Kapitel und Sitzungen von Demian. Jede birgt eine eigene Botschaft in sich. Manche der Geschichten kommen wir vage bekannt vor, sie stammen aus Märchen, Anekdoten, ZEN-Weisheiten, antiken Sagen oder werden von Jorge kurzerhand erfunden. Der Autor lässt seine Figur es ihm gleichtun.
Und so entdecke ich Kapitel für Kapitel, Geschichte für Geschichte, Bahnkilometer für Bahnkilometer nicht nur neue literarische Schmuckstücke, sondern auch neue Ansichten auf die Welt im Äußeren und Inneren. Oft muss ich schmunzeln, manchmal verwünsche ich den Dicken und erlebe mit Demian zusammen all die Emotionen, welche durch Gedanken und neue Erkenntnisse entstehen. Dabei sind die Geschichten selbst nie langweilig oder zu moralisch, sie kommen leichtfüßig daher und fühlen sich dann doch an, als wäre ein riesiger Gong geschlagen worden, der noch lange nachhallt. Ideale Tagesimpulse denke ich. Am liebsten würde ich jede der Geschichten sofort jemandem vorlesen, um dann gemeinsam darüber zu reden!
Was muss ich wohl für ein Bild abgeben, abwechselnd mit der Nase im Buch, mal aus dem Zugfenster der vorbeifliegenden Landschaft nachschauend. Mal grinsend, mal grübelnd, mal sinnierend drein blickend. Ein schneller Blick über den Seitenrand offenbart mir eine andere Leserin, mit einem dicken Buch, direkt über den Gang. Einen Moment lang treffen sich unsere Blicke, ein Lächeln in den Augen, wissend, dass wir auf einer gemeinsamen Reise und doch gerade jeweils ganz woanders sind.

Als ich am Zielbahnhof ankomme, habe ich es natürlich nicht geschafft, das Buch zwischendurch lange wegzulegen. Doch nach jedem Kapitel habe ich kurz innegehalten und es wirken lassen, wenigstens ein paar Minuten. Kurz bevor ich aussteige, um zu dem Termin zu gehen, vor dem ich mich tatsächlich ein klein wenig gefürchtet habe, lasse ich mir Jorges Worte im ersten Kapitel nochmal durch den Kopf gehen: „Der einzige Weg herauszufinden, ob du etwas kannst oder nicht, ist, es auszuprobieren, und zwar mit vollem Einsatz. Aus ganzem Herzen!“ Beherzt greife ich meinen Koffer, trete auf den Bahnsteig hinaus und lächle befreit: Aus ganzem Herzen!

 

Anja


www.fischerverlage.de/verlag/taschenbibliothek
ISBN 978-3-596-51038-2
https://www.fischerverlage.de/buch/jorge-bucay-komm-ich-erzaehl-dir-eine-geschichte-9783596510382